Ist das Gesundheitssystem wirklich nicht zu retten?

Zu wenig Personal, mangelhafte Digitalisierung, horrende Kosten und noch mehr Gesetze: Das Gesundheitswesen krankt. Dabei könnte durch die konsequente Förderung der Telemedizin der Zugang zur medizinischen Versorgung gesichert werden – insbesondere für ältere Menschen.

Rettungskräfte führen bei einem Mann eine Herzmassage durch.
Otto Bitterli Helvetic Care

1.         Problemstellungen

Mangel an Fachkräften

Landauf, landab wird der Fachkräftemangel im schweizerischen Gesundheitswesen beklagt. Dies betrifft insbesondere Hausärzte und Pflegepersonal – neu melden das aber auch Fachärztegesellschaften, wie die Handchirurgie, an.

Mit verbesserten Rahmenbedingungen (insbesondere in der Pflege) versucht man Abhilfe zu schaffen. Doch dies kann rasch das Gegenteil von dem bewirken, was man sich eigentlich gewünscht hat. Am Beispiel der Pflege ist dies gut erkennbar: Die Pflegenden «flüchten» mit höheren Entschädigungen in die persönliche Optimierung – in mehr Teilzeit, mehr Unabhängigkeit, mehr Erholung. Die Arbeitskraft wird noch knapper. Dies hat den Begriff «Pflexit» geprägt, also der Weggang der Pflegekräfte aus ihren Berufen.

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Immer teurer, mit immer weniger Grenznutzen

Auch stehen Spitäler teilweise vor Bergen von Defiziten und vor einem schwierigen Ausblick. Sie investieren trotz rückläufiger Patientenzahlen in neue Gebäude und in ambulante Infrastrukturen. Ob die Kantone bereit sind, über höhere Steuern die zunehmenden Defizite zu tragen? Oder wird dem Prämienzahler erneut in die Tasche gegriffen?

Digitalisierung nach Covid?

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen scheint nach dem «Covid-Hoch» wieder in Vergessenheit zu geraten. Dabei hinkt die Schweiz punkto Digitalisierung im Gesundheitswesen gewissen Staaten wie Estland oder Finnland teilweise um Lichtjahre hinterher.

Interessengruppen: zurück zur schweizerischen und kantonalen Gesundheitspolitik

Das pragmatische «Zusammenstehen der Beteiligten» in einer Krisensituation ist wieder der Besitzstandswahrung der Interessengruppen gewichen. Die schweizerische Gesundheitspolitik widmet sich den abstrakten Themen: Gesetze, wie EFAS, welche in der Umsetzung Jahre beanspruchen und deren Wirkung ungewiss ist, stehen zur Diskussion.

Die Kantone fokussieren sich im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten auf die Planung und immer mehr auch auf den ambulanten Teil. Ob dies die Antwort auf dringend notwendige strukturelle Anpassungen mit sich bringt oder eher das Gegenteil bewirkt?

Integrierte Versorgung?

Das Thema der integrierten Versorgung wird seit mehr als 20 Jahren diskutiert. Grundsätzlich vernetzen sich dabei die medizinischen Fachdisziplinen und die verschiedensten Leistungserbringer stärker, verbessern so die Patientenversorgung und reduzieren Gesundheitskosten. Das ist eine gute Sache.

Mittlerweile gibt es aber derart viele Ansätze, dass man bald nicht mehr versteht, was eigentlich «integrierte Versorgung» genau bedeuten soll: Geht es darum, dass alle Patientinnen und Patienten immer zum gleichen Anbieter gesteuert werden oder geht es effektiv um Mehrwerte für die Menschen, wie alle behaupten? Ist das womöglich der Grund, weshalb wir unzählige integrierte Versorgungsmodell-Ansätze haben, aber keine integrierte Versorgung?

Dabei wäre so vieles möglich und bereits vorhanden! Man müsste es nur richtig und konsequent fördern.

Rabatte auf alternativen Versicherungsmodellen sind der Treiber!

Nicht all die wunderbaren Versorgungsmodelle, wie integrierte Versorgung, Managed Care oder Continuum of Care, sind die Treiber. Der weitaus grössere Hebel ist deren konkrete Umsetzung in die sogenannt alternativen Versicherungsmodelle (Versicherungsprodukte) und in die damit verbundenen Rabatte. Schweizerinnen und Schweizer reagieren sehr wohl auf ökonomische Anreize.

Positiv: Fast 80% der Einwohnerinnen und Einwohner in der Schweiz sind in einem solchen Modell und profitieren damit mehr oder weniger von integrierter Versorgung.

Negativ: Die meisten Menschen sind nach wie vor in Modellen versichert, die in «Silos» entstanden sind (immer zuerst zum Hausarzt, immer zuerst Telemedizin, Hausarzt versus Facharzt, Apotheke vor Hausarzt, ambulant versus stationär). Dabei geht es in diesen Modellen vielmehr um die «Zuweisung» der Patienten zu den jeweiligen Leistungserbringern als um das konsequente Nutzen von besseren, effizienteren Zugängen, um Kostenersparnis und um neue Möglichkeiten der medizinischen Versorgung.

Gespannt ist Helvetic Care auf das neu entstehende alternative Versicherungsmodell, das im Berner Jura zwischen Kanton Bern, Swiss Medical Network und der Visana im Herbst lanciert wird.

2.         Telemedizin als Erstanlaufstelle

Ein zentraler Baustein, um aus den oben geschilderten Problemen herauszufinden, könnte die Telemedizin sein. Dabei meine ich vorwiegend den Medizinteil und nicht den oben beschriebenen Triage- und Zuweisungsaspekt.

Sehr viele medizinische Diagnosen und Therapien sind mittlerweile über Telemedizin erprobt und bedingen keinen physischen Kontakt mit einer Ärztin oder einem Arzt. Die SWICA macht es mit ihren Lösungen bei santé24 bereits vor. Auch ist das Patienten-Empowerment wesentlich höher einzuschätzen als noch vor 20 Jahren.

Die konsequente Vorschaltung von Tele- und digitaler Medizin könnte im Zusammenhang mit der weiterhin zunehmenden Knappheit an Hausärzten eine wesentlich entlastende Rolle spielen. Auch könnten die Menschen (teilweise) qualitativ besser begleitet werden als dies heute der Fall ist (Thema Realtime-Messungen-Prävention).

Auch und gerade ältere Menschen mit Mobilitätseinschränkungen dürften von hybriden Modellen (digitaler Service gekoppelt mit telefonischer Kontaktnahme) profitieren. Die ins hohe Alter kommende Generation der Babyboomer ist es aus anderen Industrien längst gewohnt, mit digitalen Dienstleistungen umgehen zu können, bzw. das Telefon gehört seit deren Geburt zu einem Alltagshilfsmittel!

Dies sind alles Gründe, weshalb helveticcare.ch mit MiSANTO zusammenarbeitet. Wir sind überzeugt, dass dies vielen Individuen, die gewillt sind, genau das, unabhängig von ihrer Krankenversicherung einzukaufen, helfen kann. Aber wir sind auch der Meinung, dass Telemedizin eine weit grössere Dimension einnehmen könnte, ja einnehmen müsste.

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Das deutsche Bundesland Nordrhein-Westfahlen macht es mit einer konsequenten Förderung der Telemedizin vor. Hätten wir in der Schweiz nicht auch die Möglichkeiten?

3.         Wie genau soll das gehen? Wie könnte man das umsetzen?

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) wird einwenden, dass es genau das mit der Erstanlaufstelle versucht hat, diese aber keine Zustimmung fand. Die fehlende Zustimmung lag wohl eher in der Angst der staatlichen Steuerung als in der Ansicht der besseren Koordination unter den Leistungserbringern.

Genau da setzt der Vorschlag an, der nicht auf neuen Gesetzen beruht, sondern sich über die Rabattsteuerung der alternativen Versicherungsmodelle durchaus in einem freiheitlichen Gewand umsetzen liesse. Der Bund müsste über einen aufsichtsrechtlichen Eingriff die Player dazu zu zwingen, sich entsprechend zu organisieren.

Über den Autor 

Otto Bitterli hat sich ein Berufsleben lang an der Schnittstelle zwischen Privat- und Sozialversicherung bewegt. Er kommt ursprünglich von der Privatversicherungsseite (Winterthur) und hat dann bei der Sanitas als Geschäftsleitungsmitglied, als CEO und 1 Jahr als Verwaltungsratspräsident (VRP) gearbeitet. Aktuell ist er Berater und in mehreren VR und Boards tätig, unter anderem als VRP der Helvetic Care.

Digitalisierung über Rahmenrabatt-Steuerung?

Längst gehören (Rahmen-) Rabattsteuerungen zu den aufsichtsrechtlichen Steuerungsinstrumenten des BAG: So gibt es Maximalrabattsbegrenzungen (Franchise verknüpft mit anderen Rabatten), Maximalrabatte bei alternativen Versicherungsmodellen oder Wiedervorlage der alternativen Versicherungsmodellen etc.

Mit folgender Auflage könnte das BAG ein starkes Zeichen setzen: In sämtlichen alternativen Versicherungsmodellen wird der Maximalrabatt beschränkt (z.B. auf max. 10 %), wenn nicht Telemedizin vorgeschaltet wird – und zwar unabhängige Medizin und nicht nur Triage!

Auf dieser Basis müssten sich Versicherer und Leistungserbringer aller Art auf einer freiheitlichen Basis neu organisieren. Diese Auflage könnte an die Wiedervorlage der alternativen Modelle gekoppelt sein und zeitlich über die nächsten 3 bis 4 Jahre gestaffelt umgesetzt werden.

Schweizerin und Schweizer reagieren extrem sensitiv auf ökonomische Anreizstrukturen in der Krankenversicherung. Es ist davon auszugehen, dass in 3 bis 4 Jahren grosse Bevölkerungsgruppen primär digital und telefonisch Zugang ins schweizerische Gesundheitswesen haben würden.

Zulassungskriterien

Kantonale und eidgenössische Zulassungen von Telemedizin-Praxen (inklusive Flying Nurses etc.) sollten gefördert und rasch umgesetzt werden.

Entschädigung

Ebenso müssten die Entschädigungen (Tarmed) stärker auf die Telemedizin (sowohl diagnostisch und therapeutisch) ausgeweitet und entsprechende Anreize gesetzt werden.