Innovation verschiebt sich
Die internationale Pharmaindustrie zeichnet sich nach wie vor durch eine sehr hohe Innovationskraft aus. Während vor Jahren die Innovationsanstrengungen in die gesellschaftlich wachsenden Krankheitsbilder wie Diabetes, Bluthochdruck oder psychische Leiden flossen, hat sich dies zwischenzeitlich verändert: Heute fokussiert die Innovation auf personalisierte Medikamente in den Bereichen Onkologie, Immunologie und seltene Krankheiten. Diese sind zwar von den Volumina her geringer, können aber mit weit höheren Preisen abgesetzt werden und sind von der Zulassung her besonders gefördert.
Die Konsequenzen daraus sind, dass «ältere Medikamente» weniger attraktiv werden. Sie werden von den Originalherstellern verkauft an zum Teil ziemlich unbekannte Firmen, die Lieferketten werden «optimiert» und dadurch können Engpässe entstehen. Genau diese Situation trifft zum Beispiel auf Antibiotika zu.
Internationale Produktion
Die stark im internationalen Konkurrenzkampf stehende Pharmaindustrie ist gezwungen, ihre Abläufe permanent zu optimieren:
Wirkstoffe
Wirkstoffe werden in hohem Masse nur noch in Asien – oft für den globalen Markt von bloss noch einem einzigen Produzenten – hergestellt. Fallen die Lieferketten aus welchen Gründen auch immer aus, dann kommt es rasch zu Engpässen.
Medikamente
Es werden jene Medikamente produziert, die am meisten Rentabilität versprechen, unabhängig vom therapeutischen Wert.
Abgabeformen von Medikamenten
Medikamente können in verschiedener Form bezogen werden, zum Beispiel als Tablette, Tropfen oder Sirup. Genau diese unterschiedlichen Abgabeformen fallen dem Effizienzkriterium zum Opfer. Produziert wird nur noch eine standardisierte Form, zum Beispiel Tabletten.
Länderspezifische Auflagen – Grösse des Marktes
Die Pharmaindustrie optimiert ihre Produktion permanent hinsichtlich der Rentabilität der jeweiligen Märkte. Dass dabei Faktoren wie Grösse des Marktes, spezifische Auflagen, durchsetzungsfähige Preise und jeweilige Produktionskosten zentrale Pfeiler sind, versteht sich von selbst.
Dass die Schweiz – aus der Optik der Produzenten – aufgrund der Grösse und der spezifischen Auflagen nicht die besten Karten hat, ist nachvollziehbar. Auch stehen die Preise im internationalen Vergleich sehr unter Druck. Die Attraktivität des Marktes Schweiz wird permanent hinterfragt.
Wenn dann noch die Produktion von Medikamenten für eine kleine Population zur Diskussion steht, dann kann es rasch zu Engpässen kommen. Solche Engpässe sind seit Längerem in Bezug auf Personengruppen wie Kinder und ältere Menschen (Palliative Medizin) festzustellen.
Und was macht die Schweiz?
Die Schweiz hat keine zentrale Steuerung des Medikamentenmarktes. Wir basieren auf einem System der föderalistischen Betreuung der Patientinnen und Patienten. Dies sowohl im Spital als auch ambulant. Das war in der Vergangenheit sehr erfolgreich. Aber ist es dies auch in Zukunft?
Keine zentral verfügbaren Daten
Das föderalistische System führt dazu, dass alle, die Medikamente abgeben (jede Apotheke, jeder Arzt etc.), ihr eigenes Planungssystem aufgebaut haben. Sie bewirtschaften am Lager diejenigen Medikamente, welche sie zur Versorgung ihrer Population benötigen. Sie haben den Auftrag, diese Versorgung sicherzustellen.
Auch «hüten» diese Leistungserbringer ihre eigenen Lager. Darüber können nur sie selbst entscheiden.
Was bedeutet das bei einem Engpass?
Natürlich hilft man, falls es geht, den anderen aus. Aber gerade bei einem Engpass ist dann Vorsicht geboten: Ich gebe das noch verfügbare Medikament nicht weiter, da ich weiss, dass in Kürze einer meiner Patient:innen genau dieses brauchen wird. So sieht es aktuell unsere Organisation vor.
Krankenkassen müssen höhere Preise bezahlen
Ist ein Medikament nicht mehr verfügbar und muss dies auf dem Markt durch einen Leistungserbringer auf irgendwelchen Kanälen beschafft werden, dann geht das nur zu höheren Preisen als im Normalfall.
Dass dies ein aktuelles und grosses Thema ist, zeigt sich darin, dass die Krankenkassen auf dem Verordnungsweg gezwungen wurden, diese höheren Preise dann auch effektiv zu vergüten. Dies ist jedoch aktuell eher eine «gesetzgeberische» Hilfskonstruktion als eine nachhaltige Lösung.
Bestimmung lebenswichtiger Medikamente
In der Schweiz überwacht das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) die Situation «nur» in Bezug auf die Versorgung von «lebenswichtigen» Medikamenten. Diese Überwachung ist auf den Krisenfall ausgelegt.
Das BWL hat Listen solcher Medikamente verfasst. Darin finden sich jedoch nicht solche, die im Einzelfall überlebenswichtig sein können und auf den sich veränderten Medikamentenmarkt zugeschnitten sind. Auch ist da grundsätzlich die Entwicklung hin zu personalisierten Medikamenten (off Label Use) kaum abgebildet.
Plattform von Dr. Enea Martinelli
Der Spitalapotheker Dr. Enea Martinelli weist auf privater Basis seit 20 Jahren auf die sich verändernden Märkte und auf dadurch entstehende Engpässe hin. Er hat die Plattform drugshortage.ch ins Leben gerufen. Da können sich die diversen Leistungserbringer ein Bild über die bestehenden Engpässe machen. Auch können sie entsprechende Medikamentenvorräte darüber publizieren.