Marie-Theres Nadig: «Mit meinem Naturell eignete ich mich nicht zum Schätzeli der Nation, das zu allem Ja und Amen sagt»

Vor 50 Jahren sorgte ein junges Mädchen aus den Flumserbergen für eine Sensation an den Olympischen Winterspielen: Mit 17 Jahren gewann Marie-Theres «Maite» Nadig zwei Goldmedaillen. Die Ex-Skirennfahrerin über die Höhen und Tiefen ihrer Karriere, das Älterwerden und den heutigen Skisport.

Marie-Theres Nadig: «Mit meinem Naturell eignete ich mich nicht zum Schätzeli der Nation, das zu allem Ja und Amen sagt»
Ricardo Tarli

Marie-Theres Nadig, sind Sie im Olympia-Fieber?
Natürlich verfolge ich die Winterspiele aufmerksam und hoffe auf möglichst viele Medaillen für die Schweiz. Was ich aber nicht mache, ist mitten in der Nacht aufstehen, um mir die Wettkämpfe live im Fernsehen anzuschauen.

Nach Ansicht von Bernhard Russi hat die Schweiz mit Lara Gut-Behrami eine der weltbesten Skirennfahrerinnen des Jahrhunderts. Wie schätzen Sie Gut-Behrami ein?
Die Erwartungen waren gross, nachdem Lara Gut-Behrami im Riesenslalom auf den dritten Platz gefahren war. Fortan gehörte sie zu den Top-Favoriten an den Winterspielen. Ihr Sieg im Super-G ist die Krönung ihrer Karriere. Sie hat nun alles erreicht, was es im Skisport zu erreichen gibt, was nicht heisst, dass sie das Erreichte nicht noch toppen könnte.

Können Sie die massive Kritik an der Durchführung der Winterspiele in China nachvollziehen?
Ja, doch was wäre die Alternative gewesen? Dem Internationalen Olympischen Komitee fällt es zunehmend schwer, Ausrichter für Olympische Spiele zu finden. Vor der Vergabe war, neben Peking, nur noch Almaty in Kasachstan im Rennen. Oslo hatte nach Widerständen in der Bevölkerung seine Bewerbung zurückgezogen, obwohl Norwegen der Favorit gewesen war.

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Wie wird man in Zukunft geeignete Austragungsorte finden können? Gerade in traditionsreichen Wintersportorten sind die Vorbehalte in der Bevölkerung gross.
Das Vergabeverfahren sollte reformiert werden. Sonst drohen die Olympischen Spiele ihre Legitimation über kurz oder lang endgültig zu verlieren. Die Art und Weise, wie Winter- oder Sommerspiele heutzutage ausgerichtet werden, ist eigentlich nicht mehr finanzierbar.

Die Bevölkerung will keinen Gigantismus. Es ist absurd, extra für die Spiele eine milliardenteure Infrastruktur aus dem Boden zu stampfen. Die Spiele sollten deshalb nur in Ländern stattfinden dürfen, wo die dafür notwendige Infrastruktur bereits existiert, gegebenenfalls auch als länderübergreifende Veranstaltung.

Wie haben sich die Olympischen Winterspiele seit Sapporo verändert?
Damals waren wir alles Amateure und Angestellte des Schweizerischen Skiverbands. Es gab keine Kopfsponsoren. Funktionäre, Trainer wie auch die Athletinnen und Athleten waren alle am gleichen Ort, im Olympiadorf, untergebracht – Frauen und Männer strikt getrennt. Alles war sehr familiär und überschaubar.

In den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten hat die Kommerzialisierung den Sport verändert. Wer gute Leistungen bringt, kann heute mehr Geld verdienen als früher. Im Gegenzug erwarten die Sponsoren eine grosse mediale Präsenz. Durch Social Media ist der Druck, sich auch abseits der Piste im besten Licht zu präsentieren, gross geworden.

Sie waren gerade mal 17 Jahre alt, als Sie an den Olympischen Winterspielen in Sapporo Doppel-Gold holten. Quasi über Nacht wurden Sie zu einem gefeierten Skistar. Waren Sie darauf vorbereitet?
Nein, auf diesen Rummel war ich überhaupt nicht vorbereitet. Den Wirbel um meine Person bekam ich ja erst gar nicht mit im fernen Japan. Denn nach Olympia ging es weiter an die Rennen in den USA, und ich hatte während dieser Zeit nur einmal mit meinen Eltern telefoniert. Erst als ich dann ein paar Wochen später in die Schweiz zurückkehrte, realisierte ich, was hier abging.

Als Sie am Flughafen vom Bundespräsidenten empfangen wurden, kauten Sie während der Rede einen Kaugummi, was die TV-Kameras filmten. Fortan hatten Sie das Etikett eines schnoddrigen Teenagers. Verstanden Sie warum?
Nein, natürlich nicht. Eigentlich hatten meine Eltern mich zu einem anständigen Mädchen erzogen. Das zeigte sich zum Beispiel daran, dass ich allen respektvoll begegnete. Trotzdem war ich als Kind ein kleiner Rabauke. Von einem Tag auf den andern hätte ich nicht mehr «ich» sein dürfen, sondern ein Vorbild. Das machte mir zu schaffen.

Über Marie-Theres Nadig

An den Olympischen Spielen 1972 im japanischen Sapporo, die auch als Weltmeisterschaften zählten, holte Marie-Theres Nadig, von allen Maite genannt, im Alter von 17 Jahren die Goldmedaillen in der Abfahrt und im Riesenslalom. Bis zu ihrem Rücktritt im Jahr 1981, mit 27 Jahren, feierte Nadig 24 Weltcupsiege und sicherte sich in ihrer letzten Saison den Gesamtweltcup. In Lake Placid holte sie 1980 zudem Olympia- und WM-Bronze in der Abfahrt.

Ihre Überraschungssiege in Sapporo läuteten eine neue Ära im Schweizer Skisport ein, denn bis zu diesem Zeitpunkt standen die Frauen stets im Schatten der Herren. Nadig gilt deshalb als erster weiblicher Sportstar der Schweiz. Für die nachkommenden Athletinnen, die in den Achtzigerjahren für Furore sorgten – Vreni Schneider, Maria Walliser oder Erika Hess –, war die Flumserin eine Wegbereiterin.

1987 startete sie ihre Trainertätigkeit. Zuerst trainierte sie den Nachwuchs und die Elite aus dem Fürstentum Liechtenstein, dann das B-Kader der Schweizer Abfahrerinnen. 2004 übernahm sie für ein Jahr das Amt als Cheftrainerin des Schweizer Frauenteams. Nach der erfolglosen Weltmeisterschaft 2005 in Bormio wurde sie freigestellt. Bis zu ihrer Pensionierung in 2018 trainierte Nadig im Skiverband Sarganserland-Walensee den Skinachwuchs. Die 67-Jährige lebt seit Geburt in den Flumserbergen (SG). 

Zusammen mit vier Geschwistern wuchsen Sie in bescheidenen Verhältnissen in den Flumserbergen auf. Wie prägend war Ihre Herkunft für Sie?
Im Winter stand ich bei jeder Gelegenheit auf den Ski. Andere Freizeitmöglichkeiten hatten wir nicht. Meine Eltern gehörten zur Kriegsgeneration und waren gottesfürchtige Leute. Mit ihrer Bodenständigkeit sorgten sie dafür, dass ich trotz Goldmedaille auf dem Teppich blieb. Auch wenn es gerade super läuft, sollte man stets dran denken, dass es auch ganz schnell wieder bergab gehen kann.

Gemeinsam mit Bernhard Russi schrieben Sie in Sapporo Schweizer Sportgeschichte. Russi zehrt noch heute von seinem Ruhm. Sie hingegen mieden eher die Öffentlichkeit. Warum?
Ich wollte einfach nur schnell Ski fahren. Für mich bedeutete es die pure Freiheit. Der ganze Zirkus rundherum hat mich nie interessiert. All die gesellschaftlichen Anlässe, für die man sich zurechtmachen muss, das liegt mir einfach nicht.

Vor fünfzig Jahren hätten Sie die Chance gehabt, eine prominente Ski-Legende wie Russi zu werden.
Den Vergleich mit Bernhard Russi finde ich unpassend. Wir sind unterschiedliche Typen. Er hat das gemacht, was er für richtig gehalten hat und was ihm Freude gemacht hat. Und ich habe das gemacht, was mir Spass gemacht hat. Entscheidend ist doch, dass wir beide mit unserem Leben zufrieden sind.

Für Schminke und Mode hatten Sie nie viel übrig. Damit entsprachen Sie nicht dem damals gängigen Frauenbild. War das für den Erfolg abseits der Piste eher hinderlich?
Mit meinem Naturell eignete ich mich nicht zum «Schätzeli der Nation», das zu allem Ja und Amen sagt. Ich blieb mir als Mensch immer treu, wollte am Boden bleiben. Deshalb eignete ich mich nicht als Werbeträgerin. Als ich wegen eines neuen Verbandssponsors geschminkt werden musste, wischte ich mir den Lippenstift gleich wieder ab. Mit Lippenstift, Wangenrouge und Wimperntusche kann ich noch heute nicht umgehen.

Nach Ihrem Rücktritt arbeiteten Sie als Trainerin. 2004 waren Sie sogar Cheftrainerin des Schweizer Frauenteams. Wie gelang es Ihnen, sich in dieser Männerdomäne zu behaupten?
Als ich dann 1987 meine Laufbahn als Skitrainerin begann, war ich eine Vorreiterin. Damals waren Frauen im Trainermetier noch unüblich. Entsprechend gross war das Misstrauen. Eine Frau bringe die körperlichen Voraussetzungen für den Trainerjob nicht mit, hiess es. Sie könne doch nicht die schweren Slalomstangen tragen und einen Lauf abstecken. Als ich im Weltcup in Altenmarkt den ersten Super-G steckte, war das eine kleine Sensation.

Bis zu Ihrer Pensionierung vor vier Jahren standen Sie als Nachwuchstrainerin auf der Piste. Wie verbringen Sie die Zeit als Rentnerin?
Ich gehe viel spazieren, spiele ab und zu Tennis, und im Winter fahre ich Ski. Während der Wintersaison helfe ich meinem Bruder, der in Flumserberg ein Sportgeschäft führt, Ski präparieren. Diese Arbeit gefällt mir, weil ich was Nützliches machen und gleichzeitig mit meinem Bruder plaudern und diskutieren kann.

Mit 67 Jahren sind Sie in Topform. Wie halten Sie sich fit?
Ich habe von Natur aus eine gute körperliche Konstitution. Als Spitzensportlerin habe ich stets auf eine gesunde Lebensführung geachtet. Ich habe nie geraucht und keinen Alkohol getrunken. Und ich war ständig an der frischen Luft.

Sie haben sich ein Leben lang dem aktiven Skisport verschrieben. Was würden Sie noch gerne machen? In einem Interview schwärmten Sie mal von einem Leben als Einsiedlerin in der argentinischen Pampa. Träumen Sie noch diesen Traum?
Nein, obwohl ich mir ein solches Leben in der Abgeschiedenheit eigentlich gut vorstellen könnte. Wobei ich zugeben muss, dass ich im Alter die Annehmlichkeiten der Zivilisation schon auch zu schätzen weiss. Es muss ja nicht gleich Argentinien sein und nicht für die Ewigkeit, sondern eher mal für kurze Zeit. Ob ich diesen Schritt jemals wagen werde, weiss ich aber nicht. Im Moment traue ich es mir nicht zu.

Wie stellen Sie sich ein selbstbestimmtes Leben im Alter vor?
Mit dem Älterwerden habe ich mich eigentlich nie gross beschäftigt. Ich bin ein gläubiger Mensch mit viel Gottvertrauen. Wenn ich eines Tages den Alltag nicht mehr bewältigen kann, werde ich bestimmt die Hilfe bekommen, die ich benötige. Meine Mutter war leicht dement. Trotzdem hatte sie bis zu ihrem Lebensende ein gutes Leben. Bis zu ihrem Tod mit 91 lebte ich mit ihr zusammen im Elternhaus. Gemeinsam mit meinen Geschwistern übernahm ich die Pflege. Obwohl ich keine Nachkommen habe, blicke ich gelassen in die Zukunft. Solange ich für mich selber sorgen kann, geht es. Ich habe keine Angst vor dem Tod.

Sie zeigen sich als unabhängige Frau, die selbstbestimmt ihren eigenen Weg ging. Würden Sie diesen Weg so nochmals gehen?
Auf jeden Fall. Ich bin zufrieden mit meinem Leben und mit dem, was ich erreicht habe. Ich habe stets auf meine Freunde und meine Familie zählen können, das ist doch das wichtigste. Geld und Erfolg sind zweitrangig.

Gibt es etwas, was Sie bereuen?
Mit meiner unverblümten Art, meine Meinung zu sagen, habe ich Leute unabsichtlich vor den Kopf gestossen. Mit etwas mehr Diplomatie in den entscheidenden Momenten hätte ich mir das Leben wohl etwas einfacher machen können.

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Würden Sie einer jungen, talentierten Skifahrerin heute empfehlen, voll auf den Skisport zu setzen?
Unbedingt, sofern sie den Sport mit Leidenschaft ausübt, viel Durchhaltevermögen und eine hohe Leidensfähigkeit mitbringt. Sport ist eine gute Lebensschule, weil man lernt, mit Niederlagen umzugehen. Niederlagen gehören zum Leben.

Was war Ihre grösste Niederlage?
(überlegt) Was heisst Niederlage? Wenn ich ein Rennen nicht gewonnen hatte, analysierte ich anschliessend, woran es gelegen haben könnte. Nur so konnte ich besser werden. Als Trainerin war es mein Bestreben, die besten Bedingungen für die Athletinnen und Athleten zu schaffen, damit diese ihre Bestleistung abrufen konnten. Niederlagen können schmerzlich sein, ja. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass man sich selber nicht allzu wichtig nimmt.