Ukraine-Flüchtling Jewgeni (71): Hauptsache keine Bomben

Der Ukrainer Jewgeni (71) wurde am 24. Februar vom Krieg geweckt. «Wir haben uns zu Tode erschreckt.» Die Geschichte von seiner Flucht nach Deutschland, seine Wünsche für die Zukunft und warum der pensionierte Ingenieur einfach nur dankbar ist.

Ukraine-Flüchtling Jewgeni (71): Hauptsache keine Bomben
Maja Sommerhalder

«Ich habe so viel Glück», sagt Jewgeni. Der 71-Jährige sitzt in einem Garten bei Berlin. Die ersten Bäume blühen – ein wunderschöner Frühlingstag. Bei russischsprachigen Gastgebern haben er, seine Frau und sein Sohn für einige Tage Unterschlupf gefunden. Danach können sie für zwei Monate in einer leerstehenden Ferienwohnung in Mecklenburg-Vorpommern wohnen. Alles privat organisiert von den vielen Helferinnen und Helfern, die in Berlin für die Ukraine-Flüchtlinge Tag und Nacht im Einsatz sind.

Flüchtlinge in Berlin

Jewgeni und seine Familie sind ausgesprochen freundliche und hilfsbereite Menschen. Sie decken den Gartentisch mit ihren Gastgebern und haben bergeweise Wurstbrote zubereitet. Man unterhält sich über die Unterschiede der russischen und ukrainischen Sprache, über die ukrainische Küche und über das Leben in Deutschland.

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70 Dollar Rente pro Monat

Während im Garten die Vögel zwitschern, fallen in Jewgenis Heimatstadt Sumy Bomben. «Ich habe nie daran geglaubt, dass es mal so weit kommt», sagt er und nimmt einen Schluck Bier: «Oder vielleicht wollte ich es einfach nicht wahrhaben.»

Denn Anzeichen gab es schon. So haben sich etwa einen Monat vor Kriegsausbruch die Lebensmittelpreise verdoppelt, erzählt er: «Gerade für uns Alten war es mehr ein Überleben. Unsere Rente ist mit rund 70 Dollar pro Monat schon so ausgesprochen gering.»

Dabei arbeitete Jewgeni sein ganzes Leben lang. Als Ingenieur konzipierte er Brücken und Strassen, er war in Russland, der Ukraine und sogar in der Mongolei tätig. «Gelebt habe ich aber immer im Nordosten der Ukraine.»

«Ständig knallte es, es war furchtbar»

Bis er am 24. Februar 2022 von den Artilleriegeschossen geweckt wurde. «Wir haben uns zu Tode erschreckt.» Erst als er den Fernseher anmachte, wusste er, was los war: «Wir kannten ja bisher keinen Krieg.» Er harrte mit seiner Familie in seiner Wohnung aus. Einen Keller, um sich vor den Bomben zu schützen, hatten sie nicht: «Ständig knallte es, es war furchtbar.» Auch Lebensmittel, Wasser und Strom seien teilweise knapp gewesen.

Fast drei Wochen nach Kriegsausbruch entschlossen sie sich zur Flucht. Sechs Stunden mussten sie warten, bevor sie in einen Bus steigen konnten: «Wir erwischten den letzten offenen Korridor, bevor unsere Stadt blockiert wurde.»

«Ich bin so dankbar»

Bevor sie das Land verlassen konnten, musste sein 40-jähriger Sohn noch einige Tage in Lwiw unweit der polnischen Grenze bleiben: «Er ist seit seinem Kriegseinsatz von 2014 im Donbass körperlich stark beeinträchtigt, und er musste seine anerkannte Invalidität für die Ausreise bestätigten lassen.» Um herauszufinden, wo sie bleiben konnten, reiste Jewgeni erst einmal alleine nach Polen weiter. Als er dort ankam, haben ihm Freiwillige ein Busticket nach Berlin gegeben.

Am 18. März stand er schliesslich spätabends nach tagelanger Reise am Busbahnhof in der deutschen Hauptstadt und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. «Zum Glück vermittelten mir die Helfer schnell eine Unterkunft.» Seine Frau und sein Sohn konnte er wenige Tage später in die Arme schliessen: «Ich bin allen Beteiligten so dankbar, dass man uns hier so offen empfängt.»

«Ich rechne damit, dass der Krieg noch mindestens ein Jahr dauert»

Für die nächsten zwei Monate haben die drei erst mal ein Dach über dem Kopf. Wie geht es danach weiter? Jewgeni zuckt mit den Schultern und sagt: «Das wird sich zeigen – ich rechne aber damit, dass der Krieg in der Ukraine mindestens noch ein Jahr dauert. Es wäre also schön, wenn wir für längere Zeit etwas finden.» Er will sich so schnell wie möglich in Deutschland registrieren lassen. Vor allem sein Sohn würde gerne arbeiten: «Aber mit seinem kaputten Rücken wird es nicht so einfach, etwas zu finden.»

Er könne sich vorstellen, überall in Deutschland zu leben. «Es ist wirklich schön hier. Hauptsache keine Bomben.» Ein Flugzeug fliegt tief über den Berliner Garten. Jewgeni schaut kurz zum Himmel und zündet sich eine Zigarette an.