Frau Perrig-Chiello, viele Menschen um die 50 wollen sich beruflich oder privat nochmals neu orientieren. Was ist wichtig, damit dies gelingt?
Pasqualina Perrig-Chiello: Voraussetzung ist, dass man sich überhaupt eingesteht, dass Veränderungen anstehen, dass die alten Muster nicht mehr zielführend sind. Es geht um eine Achtsamkeit dem eigenen Befinden und den eigenen Bedürfnissen gegenüber und um eine Offenheit und Bereitschaft, die Veränderung auch vorzunehmen. Allerdings gelingt dies nicht allen gleich gut.
Warum?
Die Forschung zeigt, dass je nach Persönlichkeitsstruktur gewisse Menschen in einem Sicherheitszyklus verharren. Sie wollen oder dürfen sich nicht eingestehen, dass es im Leben Krisen geben kann, die auch sie treffen können. Sie bagatellisieren beispielsweise Schwächen, halten Burnout für Geschwätz, möchten alles unter Kontrolle halten. Doch genau diese Menschen kann es eher treffen, weil sie ihre Emotionen überkontrollieren oder gar nicht zulassen. Ich vergleiche ihre Situation mit einem Dampfkochtopf. Einmal ist der Druck zu gross und der Dampf muss entweichen. Damit sage ich auch, wie man auf Situationen reagieren sollte.
Man sollte gegenüber Veränderungen offen sein?
Genau. Natürlich ist das auch eine Frage der Persönlichkeit. Nicht alle können sich in gleicher Weise auf etwas Neues einstellen; das zieht sich durch die ganze Biografie. Ängstliche Menschen etwa fürchten sich vor Veränderungen, weil sie die Unsicherheiten, die damit verbunden sind, nicht aushalten können. Und dennoch stehen Veränderungen in unserem Leben an, denen wir uns nicht verschliessen können. Wenn wir diese nicht angehen, verdrängen, dann zwingen sie sich früher oder später von selber auf. Neben der Offenheit für Veränderung gehört, dass wir ein allfälliges Scheitern zulassen können. Scheitern gehört zum Leben. In der Entwicklungspsychologie sagen wir, das mittlere Lebensalter ist ein Realitätstraining, bei dem wir Illusionen wie ewige Liebe, ewige Treue und ewige Sicherheit aufgeben. Das ist kein Verlust, sondern ein Gewinn.
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Über Pasqualina Perrig-Chiello
Pasqualina Perrig-Chiello ist emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie der Universität Bern. Sie hat an der Universität Fribourg studiert, war mehrere Jahre berufshalber im Ausland. Sie forscht und lehrt zu Themen der menschlichen Entwicklung über die Lebensspanne sowie zu Generationenbeziehungen. Sie ist Autorin mehrerer Bücher wie «In der Lebensmitte. Die Entdeckung der mittleren Jahre», «Generationenbericht Schweiz», «Die Babyboomer», «Wenn die Liebe nicht mehr jung ist. Warum viele langjährige Partnerschaften zerbrechen und andere nicht».
Gibt es ein Handwerk der Neuorientierung?
Wir sollten die Veränderung nicht als Bedrohung, sondern als Chance wahrnehmen, uns neu zu definieren. Es geht um eine persönliche Entwicklung, die uns weiterbringt und unserem Leben wichtige Impulse und Möglichkeiten gibt. Vor allem sollten wir uns Zeit lassen, unser Leben zu reflektieren und zu bilanzieren. Carl Gustav Jung hat mal sehr zutreffend gesagt: Wir können den Nachmittag des Lebens nicht so verbringen wie den Vormittag.
Nun könnte man einwenden, dass für Menschen aufgrund ihrer Persönlichkeit – zum Beispiel ängstliche Menschen – Veränderungen kaum möglich sind.
So einfach ist es nicht. Persönlichkeit ist kein Schicksal, wir können ein Leben lang lernen und uns optimieren. Eine der Kardinalkriterien, die zum Erfolg führen, ist nachweislich die Selbstverantwortlichkeit.
Wie geht das genau?
Ich nehme mein Leben in die Hand und mache nicht etwa meinen Partner für meine Unzufriedenheit verantwortlich. Natürlich hat er auch Anteil an meiner Befindlichkeit, aber letztlich bin ich verantwortlich für mein Leben. Das Gleiche gilt im Beruf. Wenn ich einen mühsamen Chef habe, kann ich nicht ihn dafür verantwortlich machen, dass es bei der Arbeit schlecht läuft. Oder wenn ich eine schwierige Kindheit hatte: Das entschuldigt nicht alles. Ich muss damit umgehen können. Wichtig ist immer, was ich aus einer Situation mache. Was wir jedenfalls sagen können, ist, dass Frauen schneller auf Schwierigkeiten reagieren und Hilfe holen. Das hat wohl damit zu tun, dass sie sich bereitwilliger als Männer mit anderen über ihre Probleme austauschen. Daher kommt es bei ihnen weniger schnell zu plötzlichen biografischen Brüchen.
Dann gehört der Austausch über das eigene Leben auch zum Handwerk der Neuorientierung. Unbedingt. Und man merkt dabei, dass man nicht alleine ist mit dem, was einen beschäftigt. Alle erzählen vom Bilanzieren, blicken auf das eigene Leben zurück, fragen sich, was sie erreicht haben, wo sie scheiterten und wo sich neue Möglichkeiten ergaben. Diese gemeinsame Erfahrung stärkt. Und nicht bei allen finden Veränderungen ja in radikaler Weise statt, sondern es sind häufig stete Anpassungsleistungen. Veränderungen sollten auf jeden Fall nicht als Desaster betrachtet werden, sondern eben als Chance. Es ist sinnvoll, eine Auslegeordnung vorzunehmen und sich auszutauschen.
Muss man mit 40 bereits an 50 denken?
Grundsätzlich sollte man das Hier und Jetzt bewusst leben, aber dabei zielgerichtet und vorausschauend sein. Ziele und Träume sind wichtig. Ideal ist wohl: von den vergangenen Erfahrungen zehren, aus Fehlern lernen, aber sich nicht von der Vergangenheit treiben lassen. Nur so ist man frei für neue Erfahrungen.
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