Als Kind hörte ich immer fasziniert zu, wenn mir meine Eltern von der Seegfrörni erzählten. Was für ein riesiges Eisfeld – ein unendlicher Spass muss das sein, über einen See zu gleiten, dachte ich nicht ohne Neid. Doch wie erlebten das meine Eltern vor über 60 Jahren genau? Zeit für ein Interview zu diesem Jahrhundertereignis.
Mami, 1963 warst du 16 Jahre alt und besuchtest in Zürich das Unterseminar. Die Aufregung muss riesig gewesen sein, als die Behörden am 1. Februar den Zürichsee freigaben.
Tonia Sommerhalder: Sicher, wir wagten uns gleich am 1. Montag nach der Freigabe aufs Eis. An diesem Nachmittag hatten wir jeweils keinen Unterricht – erst um 17 Uhr startete der Schreibmaschinenkurs. Wir Schülerinnen vom Land nutzen diese Zeit, um etwas in der Stadt zu unternehmen. Im Winter ging es oft auf den Uetliberg zum Schlitteln. Weil es so lange kalt war, waren wir an diesem Februartag besonders schnell unten – die Abfahrt war unglaublich eisig. In Wollishofen betraten wir dann den Zürichsee.
War euch nicht etwas mulmig zumute?
Eigentlich nicht – es waren ja so viele Leute auf dem See. Die Menschen waren ausgelassen. Im damals noch sehr zwinglianischen Zürich herrschte Volksfeststimmung. Auf der Eisfläche gab es Stände – so wurden etwa Maroni und warme Getränke verkauft.
Für uns war es ein unbeschreibliches Gefühl über diesen See zu gehen, der ja bis zu 136 Meter tief ist. Allerdings brauchten wir länger als gedacht, um von Wollishofen rüber zum Bellevue zu spazieren. Wir kamen zu spät zu unserem Schreibmaschinenkurs.
Oh, aber ich hoffe, die Lehrerin war nachsichtig.
(lacht) Sie strafte uns mit bösen Blicken, aber sagte nichts. Stattdessen betete sie weiter stoisch ihre Buchstaben runter, die wir schreiben sollten. Der Unterricht bei ihr war generell eher monoton. Immerhin beherrsche ich heute das 10-Finger-System.
Die Seegfrörni dauerte mehrere Wochen – warst du traurig, als die Polizei im März den See wieder sperrte.
Nein, man hat das so hingenommen. Die Spaziergänge über den See gehörten zwar zu unseren regelmässigen Freizeitbeschäftigungen, doch sonst war ich als angehende Lehrerin sehr mit dem Lernen für die Schule ausgefüllt. In unserer Familie fieberten wir im Februar ausserdem der Freigabe des Bodensees entgegen, obwohl wir dort gar nie hinfuhren. Doch uns war bewusst, dass dies ein Jahrhundertereignis ist und so etwas in unserem Leben wahrscheinlich nicht nochmals passiert.
Trotzdem waren zugefrorene Gewässer in eurer Jugend keine Seltenheit, Papi.
Ruedi Sommerhalder: Ja. Ich wuchs beim Wasserkraftwerk Wettingen AG auf. Dort gab es eine Stelle in der Limmat, die im Winter regelmässig zufror. An unseren Schuhen montierten wir Kufen, die wir Schraubendampfer nannten. Damit war man oft wacklig unterwegs, doch richtige Schlittschuhe waren für uns ein Luxus. Trotzdem spielten wir Hockey auf dem Eis mit selbstgebastelten Schlägern.
Man munkelt ja, dass du einmal im Eis eingebrochen bist.
Das war in Ufernähe, wo die Eisfläche wegen des Einflusses eines Baches nicht ganz so dick war. Plötzlich hörte ich es knirschen und stand im Wasser. Da es aber an dieser Stelle nicht allzu tief war, konnte ich mich gut selbst befreien. Zum Glück wohnte ich nicht weit weg, um die nassen Kleider zu wechseln.
Wart ihr manchmal etwas leichtsinnig auf dem Eis?
Nein, in der Regel betraten wir die Fläche nur, wenn das Kraftwerk sie freigab. Wir warfen dann immer Steine, um zu testen, ob das Eis genug fest war. Ausserdem hatten wir stets lange Holzleitern für eine allfällige Rettung dabei. Natürlich mahnten uns auch unsere Eltern zur Vorsicht und die Lehrer klärten über die Gefahren auf. Allerdings war man nicht so sicherheitsbewusst, wie heute.
Tatsächlich überschattete im Aargau ein schlimmes Ereignis die Seegfrörni. Zwei übermütige Männer fuhren mit dem Lastwagen über den Hallwilersee, brachen damit ein und ertranken.
Das habe ich aus den Zeitungen erfahren und war natürlich ein grosses Gesprächsthema. Ich war nur einmal auf dem Hallwilersee. Als 15-jähriger Bezirksschüler ging ich zum Kadettenunterricht – eine Art Vorschule fürs Militär. Mit unserem Zug marschierten wir über den See – ein riesiger Spass für uns alle.
*Dieser Artikel wurde anlässlich des Seegfrörni-Jubiläums 2023 geschrieben. Weil er aber letztes Jahr so gut ankam, publizieren wir ihn 2024 erneut.
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