Diagnose Demenz: Einmal nach nirgendwo

Die Diagnose Demenz stellt eine grosse Herausforderung für die Betroffenen, aber auch für deren Angehörige dar. Dr. Irene Bopp-Kistler beschreibt, wie die Krankheit Beziehungen verändert – und wie Angehörige am besten mit dem Schmerz und der Trauer umgehen.

Diagnose Demenz: Einmal nach nirgendwo
Helvetic Care

Die Krankheit Demenz stellt Beziehungen auf die grösste Probe. Sie bringt Partnerschaften, Eltern-Kind-Beziehungen und Freundschaften in Schieflage. Die Angehörigen von Menschen mit Demenz brauchen deshalb ebenso Palliation wie die Betroffenen selbst.

Die Demenz macht keinen Unterschied: Sie stellt sich als Begleiter zwischen Menschen, die sich lieben, wie auch zwischen Menschen, deren Beziehung nicht gut ist. Sie kann damit Auslöser von Konflikten, Streit und Wut sein, sie kann ganze Familien destabilisieren und schwelende Auseinandersetzungen zur Eskalation bringen. Beziehungen können derart ins Wanken geraten, dass getrennte Lebenswege folgen.

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Manchmal geschieht es jedoch, dass die Erkrankung eines Mitglieds die Familienmitglieder neu zusammenführt und sich Beziehungen vertiefen, obwohl sich die Beziehungsqualität verändert. Niemand weiss zu Beginn, was die Demenzerkrankung auf Beziehungsebene auslöst. Wenn ich dieses Erklärungsmodell in gemeinsamen Gesprächen erörtere, eröffnet sich ein erster Weg heraus aus der Krise und nimmt Schuldgefühle.

«Da und doch so fern» lautet der deutsche Titel des Buches der US-amerikanischen Psychotherapeutin Pauline Boss. Treffender kann die Situation der Angehörigen kaum beschrieben werden. Nicht nur der Partner, die Partnerin sind da und doch so fern, sondern auch ausgerechnet liebe Freunde oder auch Professionelle.

Angehörige brauchen mehr Verständnis

Das Umfeld nimmt die betreuenden Angehörigen nicht mehr als Menschen mit eigenen Wünschen, Visionen und Bedürfnissen wahr, sondern eben nur noch als betreuende Angehörige. Sie werden konfrontiert mit Vorschlägen, Besserwisserei, obwohl sich niemand mehr mit der Demenzerkrankung auseinandersetzt als sie. Diese Tatsache wird sehr schmerzlich erlebt. Dabei sind gerade sie auf verständnisvolle Gesprächspartner angewiesen, da sich der Partner zunehmend entfernt und weil seine Empathie, das feine Einfühlungsvermögen, das den Boden einer Beziehung legt, früh verloren geht.

Werden Angehörige mit Ratschlägen – ob von Freunden oder Professionellen – überhäuft, empfinden sie genau diese als Schläge. Man fordert sie auf, endlich für Entlastung zu sorgen, doch wie sollen sie sich Erleichterung von ihrer schweren Aufgabe verschaffen, wenn sie sich nicht verstanden fühlen? Möglicherweise wird dann gerade die aufgezwungene Entlastung zur Belastung. Entlastung ist wichtig, doch sie muss individuell definiert werden.

Angehörige sind die erfahrensten «Professionellen», durch die langjährige Betreuung sammeln sie ein Wissen an, das grösser ist als jenes von Professionellen. Dennoch bedürfen sie des Schutzes, der Zuwendung und einer Sicht von aussen, die ihren Blick für neue Lösungswege öffnet.

Entlastung kann somit bedeuten, dass Fragen angesprochen werden, die belasten, die tabuisiert sind, dass Raum gefunden wird für Themen, über die man bis anhin nicht sprechen wollte oder konnte, sei dies im Rahmen eines therapeutischen Gespräches oder im Freundeskreis.

Unklarer Verlust und ambivalente Gefühle

Angehörige von Demenzerkrankten befinden sich in einem ständigen Wechselbad der Gefühle: Sie fühlen sich stark und schwach zugleich, sie fühlen gleichzeitig Zuneigung und Abneigung, sie trauern und haben gleichzeitig den Wunsch nach Freiheit, nach einem Leben ohne Belastungen. Dieser Wunsch nach Freiheit darf nicht gedacht und schon gar nicht ausgesprochen werden.

Vielfach werden Angehörige als Depressive abgestempelt, doch der grösste Teil von ihnen sind permanent Trauernde, die es schaffen, Stärke in einer hoffnungslos erscheinenden Situation zu zeigen. Ein unklarer, uneindeutiger Verlust ist immer mit ambivalenten Gefühlen verbunden, und das ist normal, das ist nicht krankhaft. Als Aussenstehende sollten wir den Blickwinkel wechseln und als selbstverständlich annehmen, dass die Ambivalenz Teil des Denkens der Angehörigen ist.

Es ist normal, dass Angehörige Wut und Schuldgefühle gleichzeitig mit Liebesgefühlen erleben können. Es ist auch normal, dass in Angehörigen der Gedanke auftauchen kann: Wenn doch nur alles vorbei wäre, wenn ich doch nur wieder frei sein könnte!

Gelebte Trauer und bewusster Abschied

Die momentane Lebenslage wie die persönliche Biografie, die Lebenseinstellungen und die Persönlichkeit beeinflussen den Entschluss von Angehörigen, wie sie das Leben nach der Diagnosestellung weitergestalten wollen, und das sollte respektiert werden. Es gibt Angehörige, die bereit sind, ihr Leben vollumfänglich auf das Leben des erkrankten Partners einzustellen. Viele Angehörige entwickeln eine innere Stärke (Resilienz), die sie trägt und ihnen Kraft gibt. Damit sind sie fähig, mit vielen herausfordernden Situationen kreativ umzugehen.

Die Trauer ist ein permanenter Begleiter der Angehörigen. Trauer wird aber nach neuester Nomenklatur bereits als pathologisch (krankhaft) bezeichnet, wenn sie länger als zwei Wochen anhält. Die Tränen fliessen lassen, ein bewusstes Abschiednehmen mit der Gewissheit, dass es nie mehr so sein wird, wie es war, sind wichtige Voraussetzungen zur Verarbeitung. So kann «Frieden geschlossen» werden mit der Situation, die als ungerecht und als unvorstellbar wahrgenommen wird. Das Hadern mit dem Schicksal kann umgewandelt werden in einen Miteinbezug des Schicksals ins eigene Leben.

Traurige Momente dürfen auch ganz bewusst immer wieder gelebt werden: Momente, in denen den Angehörigen klar wird, dass wieder ein Abschied angesagt ist, sei das etwas Konkretes im Alltag oder etwas Emotionales in der Beziehung. Wenn beispielsweise das Skifahren nicht mehr geht, hilft ein Ritual des Abschiednehmens. 

Ein Ehepaar ist mir in Erinnerung geblieben, das die Skistöcke für immer an einem geliebten Ort mitten im Skigebiet platziert hatte. Der Abschied soll bewusst durchlebt werden, und dazu sind Rituale äusserst nützlich und hilfreich. Oder wenn der Partner ins Pflegeheim übertreten muss, kann ein bewusstes Abschiednehmen Tränen trocknen:

Ein Übergangsritual könnte sein, ein Windrad aufzustellen, das den Aufbruch zur nächsten Phase symbolisiert. Ich ermuntere die Angehörigen, dass sie die lichten und intensiven Momente in sich tragen sollen wie den Proviant eines Rucksacks, der sie stärken wird in schweren Momenten. 

So schwer die Trauer über viele Jahre ist, so erlösend kann der Tod sein, und die Trauer danach ist vielfach leichter als bei anderen Todesfällen. Dann steht das Tröstliche, das gute Sterben im Vordergrund, die Erlösung vom Schweren. Nach dem Tod beginnt die Phase der Neuorientierung. Um nochmals Träume zu verwirklichen, die zurückgestellt wurden, braucht es eine Zeit der Verarbeitung, bis wieder etwas Neues wachsen kann.

Das Thema Sexualität sollte trotz Demenz kein Tabu sein

Denke ich an Angehörige, sehe ich Menschen vor mir, die stark sind oder auch neu Stärke entwickelt haben. Menschen, die trotz allem nicht aufgegeben haben. Und Menschen, die den Mut haben, auch heikle Themen anzusprechen: Dazu gehören Sexualität und Scham.

Sexualität, die in der Krankheit nicht mehr stimmt, weil sich die Beziehung so fundamental geändert hat. Sexualität aber auch als Oase, in der alles so sein kann, wie es immer war. Zärtlichkeit, die neu entsteht, aber auch Zärtlichkeit, die völlig verloren geht, die nicht mehr als echt angenommen werden kann, weil sich die Gefühlsebene gewandelt hat. Liebe, die noch mehr wächst auch im Auseinanderfallen der Kommunikationsebene, Liebe aber auch, die zerbricht, nur noch zur Hülle wird.

Zur Autorin

Irene Bopp-Kistler ist Geriaterin und leitende Ärztin an der Memory-Klinik im Waidspital Zürich. Sie und ihre Mitarbeiter diagnostizieren bei jährlich knapp 400 Menschen eine Demenz. Irene Bopp ist ausserdem Mitglied zahlreicher Gremien und war an der Ausarbeitung der Nationalen Demenzstrategie der Schweiz beteiligt.

Ich sehe Angehörige vor mir, die sich gegenseitig Mut machen, die einander zuhören, die eine Schicksalsgemeinde bilden, in der sie verstanden werden. Angehörige, die füreinander einstehen, die Offenheit zeigen, sich gegenseitig trösten. Es entstehen neue Freundschaften, die geprägt sind durch ein gemeinsames Schicksal: die Demenz, die alles durcheinander wirbelt und nichts so stehen lässt, wie es war. Angehörige sind uns ein Stück voraus, weil sie das Thema Loslassen und Tod nicht verdrängen, sondern zu einem Teil ihres Lebens werden lassen.

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Das Leben von Angehörigen wird viele Jahre lang von Stress und Trauer begleitet, die keinen Abschluss finden. In dieser Polarität des Lebens bedürfen sie unserer Fürsorge, unserer Hochachtung und Behutsamkeit, aber auch unseres Verständnisses für ihren einzigartigen individuellen Umgang mit der Demenzerkrankung eines geliebten Menschen.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf alzheimer.ch. Wir danken Frau Dr. Bopp und der Redaktion von alzheimer.ch für die Gelegenheit der Zweitverwertung dieses Beitrags.