Das Schönste am Schreiben ist die Konzentration. Wenn ich schreibe, bin ich fokussiert, konzentriert auf ein Thema und ein Handwerk. Ich schreibe, also bin ich. So kommt es mir vor. Wir hören viel über die schwindende Aufmerksamkeitsspanne. Von wenigen Minuten ist die Rede, bis die meisten ihr Smartphone konsultieren, um ja nichts zu verpassen, um mit der äusseren Welt in Verbindung zu sein. Sie tun das wider besseres Wissen, denn es hat sich längst herumgesprochen, dass wir mit der damit einhergehenden Unzufriedenheit einen hohen Preis bezahlen. Dieses Bewusstsein hilft offenbar wenig, die Apps mit ihren Texten, Bildern, Videos sind stärker und ziehen uns in ihren Bann.
Ich muss mein Smartphone nicht beiseitelegen, die digitalen Verlockungen können mir, wenn ich schreibe, nichts anhaben. Sie interessieren mich nicht. Seit Jahren schreibe ich Tagebuch, und ich mache dabei immer die gleiche Erfahrung: Schreiben schärft die Wahrnehmung und bereichert das Leben. Wenn ich schreibe, bin ich in Verbindung mit mir. Meine Gedanken diktieren den Text, das Schreiben verselbständigt sich, und es stellt sich Flow ein. Zudem erfahre ich durch das Formulieren, was ich denke, wie ich die Welt sehe. Das ist beglückend und oft überraschend.
Jetzt kostenlos anmeldenWie kommt das? Es hat mit Loslassen zu tun. Ich beginne mit irgendeinem Satz, und schon bin ich im Text. Wohin das Schreiben mich führt, ist ungewiss. Darin liegt ein Zauber. Ich erschaffe eine Welt, bringe das Leben zur Sprache und erlebe Selbstbestimmung. Ich gewinne Klarheit, Beobachtungen, Verstrickungen und Zweifel finden Ausdruck. Manchmal nehme ich mir ein bestimmtes Thema vor, hangle mich von Gedanken zu Gedanken, bis ich verstehe. Das Schöne am Schreiben ist: Es gibt keine Regeln. Man muss es einfach tun. Was aber nicht immer einfach ist, sich hinsetzen und beginnen.
Neben meiner journalistischen Arbeit führe ich Schreibseminare durch. Meine Hauptaufgabe, so kommt es mir vor, besteht vor allem darin: Die Menschen zum Schreiben zu motivieren. Schreibt einfach! Lasst das Blatt oder den Bildschirm nicht leer. Ja, es braucht einen Anfang, und der ist bekanntlich (oder vermeintlich) schwierig. Dabei spielt es keine Rolle, wie ich einen Text beginne. Jeder Anfang führt zu «meinem» Thema.
Weitere Jobwelt-KolumnenTagebuchschreiben hat auch eine therapeutische Funktion. Und ist, sofern ich es spielerisch anpacke, lustvoll. Mein Schreiben hat sich über die Jahre verändert, ist freier geworden. Gedanken, Beobachtungen, Reflexionen, Szenen vermischen sich in meinen Texten. Nicht nur ich, wer immer das ist, komme zu Wort, sondern in meinen Texten tauchen Figuren auf. Das klassische Tagebuch wird zur Erzählung, zur Fiktion. Ich bin viele. Der Schriftsteller Max Frisch hat einmal gesagt: Ich probiere Sätze an wie Kleider.
Schreiben ist wie ein schönes Gespräch, und das fühlt sich gut an. Das Gegenüber bin ich oder ein imaginierter Leser. Nochmals: Ich bin mit mir in Kontakt. Das ist in einer Zeit, in der wir nur noch surfen, Oberflächen absolvieren, alles aufs Mal wollen und uns bis zur Unerträglichkeit verzetteln, nicht zu unterschätzen.
Rolf Murbach ist Redaktor, Dozent und Schreibcoach. Als Journalist beschäftigt er sich mit Arbeitswelt und Bildung. Lesen Sie auch seine Jobwelt-Kolumne: Warum ich im Zug besser arbeite als im Grossraumbüro.
Bleibt das Erinnern. Wir blicken zurück und ziehen Bilanz (auch wenn wir noch ganz viele Pläne haben). Auch da ist Tagebuchschreiben hilfreich. Ich erzähle mein Leben, ich erinnere mich an Begegnungen, an schöne und traurige Zeiten, an Leere und Reichtum. Dabei werde ich gewahr, dass ich gelebtes Leben beim Schreiben rekonstruiere, erfinde, erzähle. Das darf sein und geht naturgemäss nicht anders. Erinnern ist immer auch erfinden. Aber das muss uns nicht beunruhigen. Im Gegenteil, denn im Erzählen liegt Freiheit. Was gibt es Schöneres!
Tagebuchschreiben kennt keine Regeln. Alles ist möglich, man muss es einfach tun. Wie beginnen? Eine Sprachwissenschaftlerin unterscheidet zwischen zwei Grundhaltungen beim Schreiben: Tarzan und Big Brother. Im Tarzan-Modus lasse ich mich durch den Text treiben. Drauflosschreiben. Nicht denken. Nicht zurückblicken. Sich dem Text anvertrauen. Bestimmt ist da ein wenig Chaos, aber vor allem viel Kreativität. Big Brother wiederum blickt mir vom ersten Satz an mürrisch über die Schultern und sagt: kein guter Text, unschöne Sätze, mangelnder Stil, wenig Substanz. Es ist offensichtlich, dass, hat ein solcher Zensor Oberhand, mein Text misslingt. Das heisst: Wir sollten Tarzan eine Chance geben!
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