Text von Isabella Seemann
Historische Romane öffnen Zeitfenster – nicht nur in fremde Jahrhunderte, sondern auch ins eigene Innerste. Wer sich in vergangenen Epochen bewegt, sucht oft nach Deutungen der Gegenwart: nach Identität, nach Alternativen, nach dem, was bleibt, wenn alles vergeht. Die erzählerische Verdichtung macht Geschichte emotional greifbar.
Gerade in der Distanz liegt ein Reiz: Je weiter zurück die Epoche, desto freier die Imagination, desto tiefer der Spiegel. Fünf neue Romane zeigen, wie Gegenwart und Geschichte ineinandergreifen – eindringlich, kunstvoll, vielstimmig.
Ihr Lachen verdreht den Männern den Kopf. Und erst die «gflatterigen» Augen, verführerisch blinkende Sterne, mit denen sie selbst den Kastenvogt «angeglüht» hat. Der wohlhabende Witwer aus dem Dorf Muotathal nimmt die «Auswärtige» Anna Maria Schmidig zur zweiten Ehefrau. Sie erweist sich als äusserst geschäftstüchtig: Neben sechs Kindern führt sie Hof und Haus, eröffnet «wider ihre Weibsnatur» einen Krämerladen an der Heeresstrasse, erhält gar das Salzdepot, belebt das Wirtshaus, betreibt Handel bis in die Stadt Luzern und führt revolutionäre Neuerungen ein. Heute gälte sie als Paradebeispiel weiblichen Unternehmergeists. Im 18. Jahrhundert, in diesem abgelegenen Schwyzer Tal, heisst es jedoch bald, es sei der Teufel, der ein Weib klug mache.
Die Schriftstellerin Margrit Schriber hat den historisch verbürgten Fall einer Hexenverfolgung um 1750 in «Das Lachen der Hexe» literarisch verarbeitet und die lückenhafte Quellenlage in erzählerische Freiheit verwandelt. In klarer, dichter Sprache schildert sie, wie sich Aberglaube, Neid und Gier, verleumderische Nachreden und Verdächtigungen zu einem Netz aus wahnwitzigen Beschuldigungen verdichten.
Ein erster Bruch kündet sich mit dem Tod des Gatten an. Anna Maria wird enteignet und verhaftet. Acht Wochen widersteht sie den Torturen, bis man sie tot im Turm findet. Ihre Leiche wird verscharrt, das Volk um das Spektakel einer Hexenverbrennung gebracht. Und fast meint man noch, ihr freies, trotziges Lachen zu hören.
Das Lachen der Hexe; Margrit Schriber, Atlantis, Fr. 31.90; e-Book erhältlich
Hier bestellenDie Grausamkeit gesellschaftlicher Zwänge im Kaiserreich China erfährt ein achtjähriges Mädchen auf drastische Weise: Ihre Mutter stirbt an einer Entzündung infolge des Füssebindens. In ihren letzten Worten erinnert sie ihre Tochter an die Bestimmung aller Frauen: «Ob Tier oder Frau, wir sind der Besitz eines Mannes. Wir sind dazu da, ihm Erben zu schenken, ihn zu ernähren, zu kleiden und zu unterhalten.» Diese archaische Szene führt direkt in «Die Geschichte der Lady Tan».
Im Zentrum von Lisa Sees Roman steht Tan Yunxian, die im 15. Jahrhundert während der Ming-Dynastie lebte. Unter der Obhut ihrer Grossmutter, selbst eine erfahrene Ärztin, erlernt sie die Kunst der Heilkräuter und das genaue Beobachten – von Krankheiten wie von Menschen.
Mit den Jahren entwickelt Lady Tan Mittel gegen Frauenleiden, von denen manche bis heute überliefert sind. Doch Lisa Sees Roman ist weit mehr als das Portrait einer medizinischen Pionierin. Es ist die Geschichte einer innigen Freundschaft zwischen Tan und der Hebamme Meiling – ein stiller Widerstand gegen eine Welt, die Frauen auf stickende Hände und gebärfreudige Körper reduziert. Die amerikanisch-chinesische Autorin erzählt das alles mit ruhiger Klarheit und einem Blick für die Bande, mit denen Frauen einander Wissen, Beistand und oft schlicht das Überleben sichern. «Lange fühlte ich mich allein, doch im Laufe der Jahre bildete sich ein Kreis von Frauen, die mich liebten, und ich lernte, jede von ihnen ebenso zu lieben», sagt Lady Tan rückblickend. Ein Leben, das die Mutter einst beschrieben hatte als «Sonnenstrahl, der durch einen Riss fällt».
Die Geschichte der Lady Tan; Lisa See, Gutkind Verlag, Fr. 33.90; e-Book erhältlich
Hier bestellenMit klopfendem Herzen kauert Emilia del Valle in einem chilenischen Feldlager, das Gewehrfeuer so nah, dass sie den Pulverdampf riecht. Sie ist keine Soldatin, sondern Reporterin – getrieben von der Sehnsucht, das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen. Isabel Allende, Grossmeisterin des erzählenden Erinnerns, legt mit «Mein Name ist Emilia del Valle» einen historischen Roman vor, der persönliches Schicksal und politische Umwälzung kunstvoll verflicht. Die Titelfigur, Tochter einer irischen Nonne und eines chilenischen Aristokraten, wächst im San Francisco des 19. Jahrhunderts auf – rebellisch, klug und schreibwütig. Früh veröffentlicht sie Groschenromane unter männlichem Pseudonym, später arbeitet sie als Journalistin für eine renommierte Tageszeitung.
Doch das wahre Drama beginnt, als sie 1891 ins krisengeschüttelte Chile reist, um über den Bürgerkrieg zu berichten – und ihre Herkunft zu ergründen. Isabel Allende entfaltet hier ein episches Tableau aus Liebesgeschichte, Vatersuche, politischer Desillusionierung und journalistischer Leidenschaft. Emilia gerät mitten in die Frontlinien eines innerlich zerrissenen Landes und wird zugleich Zeugin und Chronistin eines erbarmungslosen Kampfs zwischen Reform und Repression.
Allende gelingt es meisterlich, historische Fakten und fiktives Leben ineinanderfliessen zu lassen. In Emilias Stimme schwingt nicht nur der Zweifel an den Versprechungen der Macht, sondern auch der Glaube an die aufklärerische Kraft des Schreibens. Ein Roman über Herkunft, Verantwortung – und das fragile Gleichgewicht zwischen Wahrheit und Überleben.
Mein Name ist Emilia del Valle; Isabel Allende, Suhrkamp, Fr. 39.90; e-Book und Hörbuch erhältlich
Hier bestellenAm 22. Juli 1871 erreichte ein Telegramm aus Zermatt die Zeitungsredaktionen: «Die Britin Lucy Walker ist die erste Frau, die den Gipfel des Matterhorns erreicht hat.» Eine Nachricht, die in einer Zeit, da Frauen in Korsett und Krinoline kaum mehr als Promenaden zugestanden wurden, wie ein Paukenschlag wirkt. Walker hatte nicht nur den ikonischen Berg bezwungen, der noch immer vom Unglück der Erstbesteigung sechs Jahre zuvor überschattet war, sondern gewann auch einen dramatischen Wettlauf gegen ihre Rivalin, die Amerikanerin Meta Brevoort.
Tatsächlich gehört Lucy Walker zu den ausdauerndsten Alpinistinnen ihrer Zeit: 98 Expeditionen in zwei Jahrzehnten, zahllose Viertausender, oft als erste Frau. Zahlen, die beeindrucken und doch nur ahnen lassen, was es hiess, in der von Männern dominierten Welt des Bergsteigens eigene Wege zu finden, Grenzen zu überschreiten und Räume für Selbstbehauptung zu erobern.
Berge zu erklimmen, um Rechte und Freiheit zu gewinnen – davon erzählt Andrea Günther in «Die Gipfelstürmerin». Präzise recherchierte Geschichte des Alpinismus verbindet sich hier mit einem lebendigen Porträt Lucy Walkers und einer zarten Annäherung an ihren legendären Bergführer Melchior Anderegg, der sie auf Augenhöhe begleitete.
«Die Gipfelstürmerin» ist weit mehr als ein historischer Abenteuerroman. Er ist auch eine kluge Reflexion darüber, was Stärke wirklich bedeutet. Lucy Walkers Antwort klingt in jeder Zeile mit: Mut ist nicht laut. Er zeigt sich dort, wo eine Frau unbeirrt ihre Spur legt – durch Schnee, Sturm und die Vorurteile ihrer Zeit.
Die Gipfelstürmerin; Andrea Günther, Gmeiner, Fr. 31.90; e-Book erhältlich
Hier bestellen«Frau Oberst Engel» tanzt aus der Reihe. Denn hier handelt es sich nicht um einen historischen Roman, sondern um die Memoiren einer Frau aus einfachen Verhältnissen, die in den Strudel der Weltgeschichte gerät – und darin selbstbewusst standhält.
An der Seite ihres Mannes, eines Schweizer Offiziers in Napoleons Heer, zieht Regula Engel quer durch Europa, getrieben von der eisernen Faust der Kriege, bis zu den Pyramiden Ägyptens, wo der Korse persönlich ihre neugeborenen Zwillinge tauft. Die Zürcherin erlebt unermesslich viel, sieht Glanz und Elend aus nächster Nähe und füllt 1821, im Alter von 60 Jahren, ein Buch, in dem alles Handlung ist. Mitunter schmückt sie darin ihr bewegtes Leben kräftig aus, sodass man oft nicht weiss, wo Tatsachen enden und Legende beginnt. Sie erzählt roh, ungefiltert, durchzogen von herbem Humor und lakonischer Ironie. Riesige Märsche ihres Regiments beschreibt sie, als seien es Spaziergänge von einer Gasse zur nächsten. Ruhe kannte sie nicht.
Unterwegs gebiert sie 21 Kinder, bringt sie bei Freunden unter, trägt stets Uniform, übernimmt Kommandos, wirft betrunkene Soldaten in den Arrest und schnupft Tabak mit Bonaparte, der sie spöttisch-zärtlich «meine kleine Schweizerin» nennt. Waterloo wird auch ihr Schicksal: Dort verliert sie Mann und zwei Söhne, wird selbst schwer verwundet, in Offiziersmontur ins Hospital getragen. Danach reist sie rastlos weiter, nach Amerika, auf der Suche nach einem Sohn, aber zuletzt treibt sie das Heimweh zurück nach Zürich. Dort, wo ihr Leben 1761 bescheiden begann, endet es 1853 arm und vereinsamt im Spital. Die «Lebensbeschreibung der Witwe des Obrist Florian Engel», schon zu Lebzeiten ein Bestseller, bleibt bis heute eindrucksvoll.
Frau Oberst Engel; Regula Engel, Limmat, Fr. 35.90; e-Book erhältlich
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